Ein kleines Plastikkärtchen berechtigt mich dazu, in alle Länder der EU einzureisen. Ich kann gehen, wohin ich möchte und bleiben, solange ich möchte. Ich habe dafür nichts getan. Ich habe dieses
Plastikkärtchen bekommen, weil ich zufällig in einem Land geboren wurde, das mich angeblich dazu berechtigt. Ich habe dafür nichts geleistet, ich musste dafür keine Prüfung bestehen, ich müsste
dafür nicht einmal eine bestimmte Sprache sprechen.
Andere haben weniger Glück. Sie flüchten aus Kriegsgebieten und vor der Armut ihres Landes, legen tausende von Kilometern zurück, erleiden Folter und setzen ihr
Leben aufs Spiel, um mit viel Glück auf dem Mittelmeer vor dem Ertrinken gerettet zu werden. Haben diese Menschen nicht viel mehr das Anrecht auf die Plastikkarte als ich? Wie vermessen und
arrogant es doch ist, ausgerechnet diesen Menschen den Zugang zu verwehren.
Wie nichtig und klein es doch ist, was ich hingegen gerade leiste. Mein First-World-Problem bestand heute darin, dass ein Fahrradhändler mir mein defektes Radlager im Wert von 10 Euro nicht
ersetzen konnte und mir stattdessen lieber ein komplettes Laufrad für 200 Euro verkaufen wollte. Ich habe mich dagegen entschieden und bin stattdessen weiter gefahren. Es war ein kontrolliertes
Risiko. Im schlimmsten Fall wäre ich eben auf der Landstraße liegen geblieben. Ich hatte genügend zu Essen dabei, ausreichend warme Kleidung und im Notfall ein Zelt. Aber wahrscheinlich hätte
nach zehn Minuten sowieso ein netter Schwede mit dem Auto angehalten und mich mitgenommen. Er hätte mich nicht nach meinem Ausweis gefragt und vermutlich wäre er begeistert davon gewesen, wie
weit ich doch schon gekommen bin.
Stattdessen bin ich ohne Defekt durchgekommen. Vielleicht schaffe ich es ja tatsächlich bald bis zur finnischen Grenze, um dort mein Plastikkärtchen vorzuweisen.
Tageskilometer 91.
Noch 1627 km bis zum Nordkap.
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